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Der steinige Weg zur Inklusion

Gestern am 05.05. war ich zu einem Fachtag für den Braunschweiger Aktionsplan eingeladen. Nun ist es Zeit Bilanz zu ziehen.

In den vergangenen Jahren hat eine Arbeitsgruppe unter dem Namen „Braunschweig inklusiv“ Leitlinien zur Erstellung eines Aktionsplans erstellt. Der Fachtag sollte dazu dienen konkrete Vorschläge an die Stadt zu formulieren.

Organisiert wurde die Veranstaltung von der Lebenshilfe Braunschweig. Eingeladen waren auch der Behindertenbeirat und weitere Gäste.

In der Eröffnungsrede wurde zwar die Präambel der Leitlinie vorgelesen, aber keine konkreten Punkte hieraus. Weiterhin wurden Bedeutung und Funktionsweise der UN-BRK besprochen. Das mag zwar für einzelne Teilnehmer neu gewesen sein, aber von einem Fachtag würde ich erwarten, dass diese Grundlagen vorher bekannt sind.

Im Kern wurde in Arbeitsgruppen an Vorschlägen gearbeitet. Dabei wurde das Thema Bildung und Erziehung kurzer Hand gestrichen. Die Gruppe wäre nicht voll geworden hieß es. Leider gab es vorher keine Möglichkeit sich für eine Gruppe anzumelden bzw. die Einteilung wurde nicht auf der Anmeldung abgefragt. Ausgleichend zu diesem Ausfall wurde das Thema Wohnen in zwei Gruppen bearbeitet. Es ist bezeichnend, wenn ein so grundlegendes Thema wie Bildung und Erziehung durch eine Zusatzgruppe für das Wohnen ausgetauscht wird. Wohnen ist zwar für die Klienten der Lebenshilfe sicher ein wichtiges Thema, aber aus meiner Sicht nicht gegen ein so zentrales Thema wie die Bildung zu tauschen.

Die Einladung kündigte an, dass der Veranstalter ermitteln wolle, welche Projekte durch Kompetenz und Knowhow der Lebenshilfe unterstützt werden können. Von Projekten war allerdings in den Arbeitsgruppen kaum noch die Rede.

Im abschließenden Plenum wurden eine Reihe allgemeiner Punkte zusammengetragen, die auch hätten von einer Taskforce hätten erstellt werden können. Es bleibt abzuwarten, welche davon als konkrete Vorschläge und Forderungen an die Stadt weitergegeben werden.

Mein Fazit fällt dürftig aus. Kommentare zu den Leitlinien wurden auch in den Arbeitsgruppen zum jeweiligen Thema überhaupt nicht erwähnt geschweige denn berücksichtigt – schön dass sich Leute die Zeit genommen haben, diese zu formulieren. Der Verzicht auf Bildung wurde mehr oder weniger deutlich damit begründet, dass dies nicht im Bereich der Lebenshilfe liege. Genau, wir sind so inklusiv, dass wir nur das bearbeiten, was unserer Klientel hilft, aber bloß keinen anderen betroffenen Menschen oder gar Kindern in der gleichen Stadt? Können wir nicht über den Tellerrand hinausschauen und ist die Inklusion selbst in den eigenen Reihen noch nicht wirklich angekommen? Ein Teilnehmer merkte an, dass in den Büros der Lebenshilfe offen bar noch keiner der betroffenen selbst arbeitet. Wie wollen wir da Inklusion von unserer Umwelt einfordern?

Die Arbeitsgruppen wurden von mehrköpfigen Moderationsteams geleitet, die alle offenbar hauptamtlich bei der Lebenshilfe beschäftigt sind. Deshalb hätten die Ergebnisse konkreter und präziser sein müssen. Es ist nicht ausreichend, ein paar Schlagworte zu sammeln und diese zu clustern. Es wäre ein Erfolg gewesen, wenn aus jeder Arbeitsgruppe ein oder zwei konkrete Vorschläge mit Lösungsvorschlägen erstellt worden wären.

War die Veranstaltung also sinnlos oder gar überflüssig? Ich denke nicht! Zumindest bleibt zu hoffen, dass einige der Punkte wirklich bei Verantwortlichen landen. Ich selbst habe einen anderen Blick auf die Situation in den Werkstätten bekommen und mir ist klar geworden, wie weit der Weg für diese Menschen hin zur Inklusion noch ist.

Wie bei so vielen großen Visionen besteht der Weg aus vielen kleinen und mühsamen Einzelschritten, die alleine nur wenig Sinn ergeben. Wer diesen Weg wirklich will, muss wohl Veranstaltungen wie diese besuchen und versuchen das Beste daraus zu machen, denn es sind immer viele Akteure mit unterschiedlichen Interessen aktiv.

Kinder jenseits der Norm: All Inclusive in die Harz IV-Werkstatt oder kämpfen gegen den Rest der Welt

Es ist noch nicht lange her, da war ich der Meinung, die großen Kämpfe des Lebens bestritten zu haben. Doch nun finde ich mich einigermaßen konsterniert in einer Situation, die alle bisherigen Herausforderung in den Schatten stellen könnte. Was ist passiert? Ich habe ein Kind mit einer Behinderung.

„Hauptsache gesund“ lautet der allgegenwärtige Kommentar von Leuten, wenn es um ein neugeborenes Kind geht. Das zeigt auf, wie groß und tief die Angst vor einem eigenen behinderten Kind ist. Was bei aller Angst und Unsicherheit aber keiner vermutet ist, dass die größte Herausforderung auf einem Nebenschauplatz und eigentlich ohne Notwendigkeit lauert.

Wenn das eigene Kind behindert geboren wird oder es einen Unfall mit dauerhaften Folgen hat, dann wird die gesamte Familie in eine andere Bahn geschleudert. Wenn es nur die eigene Behinderung wäre, könnte man selbst entscheiden, ob man sie ignoriert, verleugnet, aussitzt oder sich damit abfindet, aber beim Kind müssen Sie so entscheiden, dass Sie sich später keine Vorwürfe machen müssen. Es ist als würde man mitten in einem Theaterstück vom Regisseur beiseite genommen. „Jetzt spielen Sie den Vater eines querschnittsgelähmten Sohn! Action!“ Nur es ist kein Spiel und jede Ihrer Entscheidungen kann gravierende Konsequenzen haben. Je nach Art und Schwere der Behinderung werden Sie eines oder mehrere von folgenden dingen lernen müssen:
* Ernähren des Kindes über eine Sonde
* Verwendung und Pflege von Orthesen
* Wie wird das Zuhause Rollstuhlgerecht?
* Gebärdensprache
* Notfallhilfe bei Krampfanfällen evtl. sogar mit Beatmungsbeutel
* Bedienung von Kontrollmonitoren
* Heben eines immer schwerer werdenden Kindes oder Erwachsenen
* …

Die Liste ließe sich sicher noch um viele Punkte verlängern. Uff! Sie meinen, das würden Sie nie schaffen? Die gute Nachricht ist: Sie würden bzw. werden es schaffen. Statt über die modernsten Lernmethoden beim Lernen von Sprachen werden Sie ein punktueller Experte für Hilfsmittel und Krankengymnastik. Sie werden sich zwar verausgaben und einen Teil Ihres sozialen Umfeldes verlieren, aber Ihr Kind wird sie dafür entschädigen und Siewerden die Aufgabe mit Engagement bewältigen. Das können sie sich nicht vorstellen? Nur sehr wenige Eltern von behinderten Kindern haben das bislang nicht geschafft. Letztlich bleibt Ihnen keine Wahl, außer Sie würden Ihr Kind zu einer Pflegefamilie abgeben.

Und was ist dann die schlechte Nachricht? Nach der „Intro“ folgt der eigentliche Kampf! Er beginnt mit dem Kindergarten spätestens aber mit der Schulzeit. Sie dürfen sogar zwischen zwei ‚Wegen wählen:
All Inclusive in Exklusion! Sie brauchen nicht einmal zu suchen. Ihr zuständiges SPZ, der Kinderarzt und andere Experten werden sie auf eine Behinderteneinrichtung hinweisen. Das ist z.B. die Lebenshilfe oder die früheren Blindenschulen. Es gibt zwar auch hier Wartelisten, aber wenn sie das Kind frühzeitig anmelden, sollte es zum Kindergarten aufgenommen werden können. Ihre Unterschrift reicht, und ihr Kind wird dort ganztags von Kindergarten bis zum Ende der Schulzeit betreut. Sehr praktisch ist dabei der Fahrdienst: Das Kind wird quasi von der eigenen Wohnung direkt in die Einrichtung gebeamt – keiner sieht’s, keiner stellt seltsame Fragen und es ist dort „gut versorgt“. Dass das Beamen pro Strecke über eine Stunde dauern kann, weil ein Sammeltransport die Kameraden aus den umliegenden Ortschaften zusammenholt, steht nur im Kleingedruckten. Busfahren mach den Kindern zwar spaß, aber die Zeit fehlt dafür an anderer Stelle. Ihr Kind wird möglicherweise länger außer Haus sein, als ein erwachsener Vollberufstätiger. Wir reden hier immerhin von jedem Tag und von einem Kind das zwischen 3 und 17 oder 18 Jahren alt ist.

Bei einer Stunde Fahrzeit pro Strecke summiert sich das auf 10 Stunden in der Woche und 500 Stunden pro Jahr. Durch den ganzheitlichen Ansatz brauchen Sie sich auch meistens nicht mehr um Therapien wie Krankengymnastik, Logopädie etc. kümmern – ihr Kind käme wohl eh zu spät nachhause, um das zusätzlich zu meistern. Alle Therapien finden direkt in der Einrichtung statt. Tatsächlich sind die dort arbeitenden Therapeuten oft sehr gut und kennen sich mit den Behandlungsmöglichkeiten gut aus. Das dafür Zeit im Unterricht fehlt, trägt nicht gerade zu einem ordentlichen Bildungsniveau bei. Wie, Sie wollten ihr Kind doch nur zur Schule schicken? Tja, es ist eine Paketlösung und es kommt nicht von Ungefähr, dass die Einrichtungen rechtlich eher einem Krankenhaus oder Pflegeeinrichtung gleichgestellt sind, als einer Schule. Durch die kleinen Klassen, die vielen unterschiedlichen Behinderungen und Ausprägungen ist das Schulniveau deutlich niedriger als an einer normalen Schule – falls ein Regelschulbetrieb überhaupt stattfindet.

Ihr Kind ist dort unter Gleichgesinnten. Ob die behinderten Kinder aus der Umgebung alle so gleich sind, darf bezweifelt werden. Es gibt keine speziellen Einrichtungen für bestimmte Behinderungen, sondern höchstens Schwerpunkte. Nachdem der Strom der rein blinden Menschen Ende der 70er abzureißen begann, wurden die Blindenschulen mit einer bunten Mischung aus Lern- und Sehbehinderungen gefüllt. Das ist vermutlich weniger die Schuld der Einrichtungen, als dem medizinischen Fortschritt geschuldet. Immerhin müssen die Einrichtungen wirtschaftlich kalkulieren und die Plätze irgendwie füllen. Da landen schon mal Kinder mit sehr leichten Sehbehinderungen in einer Blindenschule (einige hätten mit einer passenden Brille sogar Autofahren dürfen), oder ein stark verhaltensauffälliges Kind wird dort wegen einer minimalen Seheinschränkung untergebracht – wohin sonst mit ihm? Das sind zumindest die Fälle, die ich selbst erlebt habe.

i.d.R. findet in solchen Einrichtungen kein Regelschulbetrieb statt. Zumindest haben die meisten Blindenschulen diesen Regelbetrieb längst eingestellt und betreuen meistens mehrfachbehinderte Kinder. Selbst wenn ein regelschulbetrieb stattfindet, bleibt eine Stigmatisierung im Lebenslauf zurück. Wenn ihr Kind also eine gute Schulausbildung machen soll, dann ist es vermutlich nicht gut in einer solchen Institution aufgehoben. Natürlich gibt es Ausnahmen. Die Blista in Marburg beispielsweise bildet nach wie vor blinde Schüler zum Abitur aus. Hinterfragen Sie also mindestens die Einrichtung kritisch. Durch die Exklusion kann das Kind keine sozialen Kontakte am Wohnort aufbauen (es ist ja von früh bis spät unterwegs). Das ist auch in einer wohnortnahen Beschulung schwierig, aber die Exklusion vermeidet dies zusätzlich und grundlegend. Ferien und Freizeit werden dadurch eher zu Einsamkeit. Das große Einzugsgebiet macht ein Besuchen der Kinder sehr schwer und der Fahrdienst trägt nicht gerade zur Erlangung von Mobilität bei.

Die Vermittlungsquote von schwerbehinderten Menschen auf dem Arbeitsmarkt ist ohnehin jenseits von Gut und Böse und die Sondereinrichtung im Lebenslauf bzw. die Abschottung statt einer Integration sind hier nicht gerade förderlich. Deshalb steht am Ende einer solchen Sonderschulkarriere oft ein Platz in einer Werkstatt für behinderte Menschen (das wäre der Glücksfall) oder ein Leben lang Harz IV. Das wäre vielleicht auch bei lokaler Beschulung nicht zu vermeiden – je nach Schwere der Behinderung etc., aber zusätzlich wiegt hier die soziale Isolation am Wohnort. Die Gruppe in der Schule wird vermutlich auseinanderbrechen und somit bleiben nur wenige Kontakte. Selbstverständlich gibt es auch Menschen, die es aus einer solchen Einrichtung in einen normalen Job geschafft haben, das ist dann allerdings schon recht selten.

Und der andere Weg? Nun, hier haben Sie die einmalige Chance zu zeigen was in Ihnen steckt. Der Weg ist lang, hart und schwer, aber am Ende lohnt es sich. Behinderte Kinder bekommen i.d.R. eine Frühförderung. Das ist eine gute Idee, denn die Kinder werden so bald wie möglich von dafür ausgebildeten Sozialpädagogen betreut und gefördert. Leider sind es die gleichen Mitarbeiter, die in Familien arbeiten, bei denen eine Betreuung durch das Jugendamt ansteht oder bereits läuft. Solche Kinder haben nämlich häufiger Defizite und die Frühförderung soll diese ausgleichen helfen. Das meine ich nicht als Kritik, aber diese Spezialisten sind darauf trainiert den Fortschritt, Entwicklungsstand und das Umfeld des Kindes zu dokumentieren. In der Formel 1 würde man sagen: Sie sind „under Inspection“. Wehe, wenn Sie nicht gut aufräumen, oder das Kind ungeeignet bekleidet ist – es wird protokolliert werden. Von nun an sind Sie mehr oder minder in einer Art Glaskasten und es ist immer wieder überraschend, wieviel über Sie bzw. Ihr Kind ohne Ihr Wissen kommuniziert wird.

Sie haben also nun das Kleingedruckte zum All Inclusive Paket gelesen und es deshalb abgelehnt. Sie haben von Inklusion und dieser UN-Behindertenrechtskonvention gehört. Sie wollen, dass ihr Kind integriert beschult wird. Sie verlassen den für Sie vorbegebenen Weg. Es beginnt mit der Suche nach einem Integrationsplatz in einer Kita. Die sind seltener als Fleischereien an ihrem Wohnort. Das liegt zumindest in Niedersachsen an den Auflagen die Kitas erfüllen müssen, um einen solchen Platz einrichten zu können. Die entsprechenden .Gesetze und Verordnungen geben vor, die behinderten Menschen bedürfen eines besonderen Schutzes. Das im Endeffekt damit das Gegenteil erzielt wird, ist in diesem Fall Ihr Pech – genauer gesagt das Pech Ihres Kindes. Es würde schon viel helfen, wenn Eltern selbst entscheiden könnten, wieviel Schutz das Kind braucht. Dann wäre eine flexiblere Gestaltung der Integration möglich. Außerdem ist nicht jeder Platz für alle Behinderungen geeignet. Wenn die Einrichtung Treppen besitzt, hat ein Rollstuhlkind schlechte Karten. Das könnte man ändern, aber solche Anpassungen dauern sehr lange. Paradoxerweise gibt es meistens auch moderne Kitas ohne Stufen etc. die dann aber keine Integrationsplätze anbieten.

Während Sie mit Kindergartenleitungen, Ämtern etc. um einen Platz für Ihr Kind ringen, dürfen Sie sich durch Widersprüche für Hilfsmittel und Therapien oder Rehamaßnahmen kämpfen. Freilich diesen Ärger hat man auch bei einer Unterbringung in einer Sondereinrichtung. Da aber, wenn Sie denn mal einen Platz gefunden haben, dort deutlich weniger Hilfsmittel verfügbar sind, müssen sie sich um die entsprechende Finanzierung kümmern. Sie müssen Erzieher (später Lehrer) für sich gewinnen, Vorurteile abbauen, Brückenschlagen etc. Ihr Kind wird nicht von der Umgebung integriert, sondern Sie bzw. Ihr Kind muss sich integrieren. Inklusion bedeutet zwar etwas anderes, aber das ist der aktuelle Zustand.
Sie müssen es ertragen, Ihr Kind in einen ungleichen Wettkampf mit anderen zu schicken und es dabei anleiten, den eigenen Weg zu gehen und sich trotz der Besonderheiten in die Umgebung einzubringen.

Die Hürden, die es zu überwinden gilt, sind umso größer, desto schwerer die Behinderung Ihres Kindes ohnehin ist. Sie werden sich aufreiben an Leuten, für die Inklusion entweder ein Modewort oder die Benachteiligung der gesunden Kinder ist. Inklusion würde zwar bedeuten, dass auch die starken gefördert würden, aber bis es so weit ist, ist es noch ein langer Weg.

Das ärgerliche daran ist, dass Sie es mit Professionellen zu tun haben, für die Sie nur ein Kunde sind. Einst trafen sich ein Huhn und ein Schwein in einer Bar. Nach einiger Zeit sagt das Huhn begeistert: „Ich mache dir einen Vorschlag. Wir eröffnen gemeinsam ein Restaurant. Als einziges Gericht bieten wir Eier mit Speck an. Was meinst du?“ Das Schwein überlegt kurz und meint dann: „Ich finde das gar nicht gut. Du bist zwar daran beteiligt, aber ich bim direkt betroffen.“

In Ihrem Fall wären Sie das Schwein und die Leute mit denen Sie Kämpfen, die stets wissen was zu tun ist, sind das Huhn. Damit nicht genug werden Gutachten oft auf Basis von Statistiken und persönlichen Einschätzungen erstellt. Eine Heilpädagogin hat sicher eine spezielle Ausbildung, aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie sich mit allen Bedürfnissen einer Behinderung auskennt. Ihr Kind ist keine Statistik und Sie kennen es am besten. Deshalb sollten Sie sich nicht scheuen, Ihre Sicht in Ihrem Fall darzulegen. Mag sein, dass Sie ab und an damit über das Ziel hinausschießen, aber letztlich müssen Sie Ihrem Instinkt und Ihren Visionen folgen.
Das ganze fühlt sich an, wie ein Denial-Of-Service-Angriff gegen Sie, weil sie an vielen Stellen gleichzeitig kämpfen müssen.

Wenn Sie und vor allem Ihr Kind all das überstanden haben, dann winkt eine Chance auf eine Teilhabe am Arbeitsmarkt und an der Gesellschaft. Unterwegs werden Sie vielen Menschen eine andere Sicht auf Dinge gezeigt haben und der Architekt, der in seiner Klasse einen Rollstuhlfahrer hatte, wird sich vielleicht hüten nur auf schöne Treppen zu setzen. Mindestens ist Rollstuhl für ihn kein abstrakter Begriff mehr und es ist gut möglich, dass dies langfristig vieles barrierefreier machen kann. Mit etwas Glück und Engagement hat Ihr Kind sogar ein lokales soziales Umfeld aufbauen können, das einen Teil der Last der Behinderung auffangen kann. Während meines Studiums hatte ich eigentlich immer Kommulitonen, die mir Aufgaben vorgelesen haben, sodass ich Sie nicht einscannen und mühsam am PC lesen musste. Ich habe das mit Einsatz an anderen Stellen auszugleichen versucht – und der Versuch ist meistens ausreichend.

Was rate ich also Ihnen als Vater oder Mutter eines behinderten Kindes? Beide Wege sind voller Mühsal und Risiken. Der Preis für eine Sonderbeschulung ist quasi später zu entrichten und wenn sie alles für Ihr Kind tun wollen, dann sollten Sie gegen Goliath antreten. Im schlimmsten Fall verlieren Sie den Kampf und können immer noch zähneknirschend das Sorglos-Paket nutzen. Können Sie vor sich bestehen, wenn Sie es sich etwas einfacher machen und dafür die Chance auf ein integriertes und selbstbestimmtes Leben Ihres Kindes verspielen? Wenn Sie nicht wollen, dass Ihr Kind lebenslang in einer Sondereinrichtung und unter Ausschluss der Umwelt bleibt, dann müssen sie früher oder später die Integration angehen. Leichter wird es meistens in höherem Alter nicht.

Damit hier kein falscher Verdacht aufkommt: Viele der Mitarbeiter in Sonderschulen und Einrichtungen geben sich viel Mühe und leisten gute Arbeit. Ich kritisiere weniger die Arbeit der Einzelnen als das System, das zugrunde liegt. Mag sein, dass einige Fähigkeiten in einer Sondereinrichtung besser vermittelt werden können. Es ist sicher richtig, dass Kinder in solchen Schulen weniger Hänseleien ausgesetzt sind. Aber können diese Vorteile eine gewisse Isolation aufwiegen?

Was rate ich Außenstehenden? Helfen Sie wo sie können, um die unnötigen Kämpfe auf Nebenschauplätzen zu vermeiden. Wenn ihr eigenes Kind ohne Behinderung leidet, weil ein anderes mit Behinderung mehr Aufmerksamkeit in der Schule bekommt, dann bedenken Sie, dass es für das andere Kind und die grundlegende Zukunft geht. Es ist völlig in Ordnung hier eine zu starke Ungleichbehandlung nicht zu akzeptieren, aber deshalb sollten Sie Inklusion nicht gleich verteufeln und dafür stimmen, das behinderte Kind in eine andere Schule versetzen zu lassen.
Wenn Sie über Reha-Anträge oder Kindergärtenplätze entscheiden, dann versuchen Sie bitte, die Angelegenheit aus Sicht der Betroffenen zu sehen. Häufig gilt es, viele Faktoren zu berücksichtigen. Was nützt eine gute Integrationsgruppe, wenn dafür ein langer Weg für die Eltern entsteht, der eine Beteiligung an Elternabenden und anderen Veranstaltungen schwierig macht? Soll die Zukunft eines Kindes davon abhängen, ob Sie an Inklusion oder Integration glauben oder nicht? Geben Sie den Betroffenen wenigstens die Chance es zu probieren.

Wenn an Einer Schule eine Rampe fehlt, bedenken Sie statt die Kosten „für ein Kind“ zu sehen, das es doch eigentlich ein Versäumnis der Bauherren war, das nun eben nachgeholt werden muss. Wenn man völlig selbstverständlich Supermärkte ohne Stufen konstruiert, damit die Kunden die Einkaufswagen raus und rein fahren können, warum schaffen wir es nicht bei öffentlichen Gebäuden? Soll die Zukunft eines Kindes davon abhängen, dass ein Architekt Rampen „unschön“ findet oder ein erbsenzähliger Verwaltungsbeamter die Investitionen hier einsparen will? Unterstützen Sie falls möglich, dass Gebäude persee mit Rampen und Blindenschrift ausgestattet werden. Das kostet nur ein wenig mehr und hilft letztlich allen weiter. Spätestens dann, wenn Sie selbst im Alter einen Rollator brauchen, zahlt sich das für Sie aus.

Inklusion – allheilmittel oder nur eine andere Sichtweise

Das Magazin des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Niedersachsen e. V. hat unter dem folgenden Link einen Artikel über das Thema Inklusion veröffentlicht.

BVN – Wir Aktuell – BVN-Magazin – Artikelansicht.

Wird jetzt alles gut?

Dem Artikel zu Folge soll sich Niedersachsen und eigentlich auch ganz Deutschland bemühen inklusiv zu werden. Das heißt: Alle behinderten Menschen können überall mitmachen?
Die UN-Behindertenrechtskonvention besagt, dass anders zu sein normal ist, während vorher stets von Integration behinderter Menschen gesprochen wurde – allso die nicht behinderten sind das Normale. Grund genug sich kritisch mit der neuen Definition auseinanderzusetzen.

Was ist das Ziel

Das Ziel der Inklusion ist, Diskriminierung von behinderten Menschen zu vermeiden und eine gleichberechtigte Teilnahme zu erreichen. Das ist vernünftig und notwendig – denn wer hat nicht selbst hier und da Einschränkungen? Wer möchte, dass er wegen einer Einschränkung ausgeschlossen wird? Die gleichberechtigte Teilhabe ist deshalb sowohl menschlich als auch gesellschaftlich wichtig, weil sie die Zusammengehörigkeit stärkt, anstatt Unterschiede hervorzuheben.

Bringschuld der Gesellschaft oder wer ist verantwortlich

Wie der oben verlinkte Artikel und die anderen aus diesem Heft sugerieren, soll nach Meinung der Blindenverbände Inklusion eine Bringschuld der Gesellschaft sein – inkludiert uns! Das kommt bei der eigenen Zielgruppe gut an und ist auch recht einfach. Wenn etwas nicht funktioniert, hat die Inklusion seitens der Gesellschaft nicht geklappt.

Allerdings ist dies eine sehr oberflächliche sichtweise und meiner Meinung nach profitieren die Blindenverbände hier von der Unwissenheit der Außenstehenden. Wie erklären wir beispielsweise, dass trotz guten Materials und Personalausstattung heutzutage die früher integrierten blinden und sehbehinderten Schüler oft bessere Leistungen als heute erbracht haben? Ich weiß wo von ich spreche. Ich habe fast meine gesamte Schul- und Ausbildungszeit in der Integration verbracht. Von PC-Hilfen und Integrationslehrern etc. war oft nicht die Rede. Das ist keine Kritik, aber es gab sie schlicht noch nicht. Das Einscannen von Texten per OCR war damals technisch noch nicht ausgereift. Wir haben Diktate blind in eine ausgemusterte Büromaschine getippt und sind wie alle anderen benotet worden. Viele von denen, die diesen Weg gewählt haben oder ihn aus anderen Gründen wählen mussten, waren am Ende im Beruf erfolgreich. Integration oder wie es jetzt heißt Inklusion ist kein allheilmittel. Es gibt viele vor allem schwächere Schüler, die hieran zerbrechen und die besser gesondert geschult werden sollten. Ich will darauf hinaus, dass die erhebliche Materialverbesserung einerseits und die Normalität der Integration/Inklusion andererseits nicht spürbar zu besseren Ergebnissen geführt haben.

Es ist gut, wenn sich blinde und sehbehinderte Schüler durchsetzen und mit gleichem Maß beurteilt werden wollen, wie ihre Mitschüler. Deshalb habe ich mich auch über den Erfolg des Abiturienten gefreut, der um die gleichen Prüfungsaufgaben gekämpft hat. Diese Gleichheit in der Beurteilung sollte auch für eine spezielle Blindenschule gelten. Egal, in welcher Form ein Schüler seine Ausbildung erhält er muss am Ende die gleiche Leistung erbringen wie alle anderen Schüler in seinem Alter bzw. seiner Schulstufe. Das gehört auch zur Inklusion – nämlich das sich die blinden und sehbehinderten Menschen den gleichen Werten und Regeln unterwerfen, die im Rest der Gesellschaft gelten – wir wollen ja dabei sein! Der Wille zur Inklusion und die Bereitschaft alle Fähigkeiten dazu einzusetzen ist die Bringschuld der behinderten Menschen gegenüber der Gesellschaft. Ist diese Erfüllt, kann mit gutem Recht die Inklusion von der Gesellschaft abgefordert werden.

Wenn wir, die behinderten Menschen, die Inklusion wirklich wollen und unseren Teil zur Inklusion beitragen, wir damit das Bild in der Gesellschaft geändert. Bislang wurde ein erheblicher Teil der Mittel durch Spenden eingeworben. Dabei steht das Bild des hilfsbedürftigen blinden oder sehbehinderten Menschen im Fordergrund. Tatsächlich fällt es außenstehenden oft schwer, sich einen “glücklichen blinden Menschen” vorzustellen. Komme ich mit anderen Menschen ins Gespräch, so möchten sie mir oft ihr Mitleid bekunden. Wenn ich versuche zu erklären, dass man durchaus gut damit leben kann, dann können und wollen sie das nicht verstehen. Dabei kommt ihnen oft der Vergleich mit ihrer im Alter erblindeten Großmutter in den Sinn. Gewiß, wer mit 70 Jahren erblindet wird froh sein, gefahrlos Kaffee kochen zu können und sich das Essen zu richten. Ich will darauf hinaus, dass mit der Forderung der Inklusion die Behindertenverbände gegenüber der Gesellschaft ein anderes um nicht zu sagen weniger hilfsbedürftiges Bild vermittelt werden muss. “Bitte spenden Sie, damit unsere Mitglieder einen Geldautomaten mit Sprachausgabe erhalten.”

In gewissem Sinne ja. Er legt lediglich den Normalpunkt für die Betrachtung einer Gesellschaft an eine andere Stelle “Alle sind normal.” Nicht mehr, aber auch nicht weniger ist damit gemeint. Die Aufregung, die Hoffnungen und Enttäuschungen um die Inklusion resultieren meiner Meinung nach aus einem falschen Verständnis des Begriffs. Wir, die behinderten Menschen, müssen uns selbst inkludieren. Jeder kann und vor allem sollte etwas dafür tun. Wenn ich in mein Fitnesstudio gehe und in Ruhe mein Training abspule, sende ich eine stärkere Nachricht an alle anderen um mich herum, als ich sie durch Aufklärung, Prospekte und Veranstaltungen erreichen könnte. Es ist für jeden erkennbar, dass ein eigenständiges Training ohne nennenswerte Probleme als blinder Sportler möglich ist. Wie ist dabei zunächst unerheblich. Das gleiche gilt für den Arbeitsplatz: Wenn die Behinderung keine Rolle mehr spielt, werde ich als Kollege, Mitarbeiter empfunden und es ist nicht mehr notwendig zu erklären was möglich ist. Mit solchen Maßnahmen können wir viel mehr erreichen, als eine UN-Konvention oder ein Gesetz vermag.