Der neue Trend Weboffice wirft seine Schatten voraus
Die letzte Ausgabe der C’T stellt eine Reihe von Officelösungen vor, bei denen man gemeinsam an Dokumenten über das Internet oder ein Intranet einer Firma arbeiten kann. Um zu einem papierlosen Büro zu gelangen, braucht es ein gutes Dokumentenmanagement. Hierbei muss u.a. geregelt werden, wer wann welches Dokument sehen und wie bearbeiten darf. Die zentrale Ablage von Dokumenten hat viele Vorteile – wer hat nicht schon einmal eine veraltete Version verwendet? Aber diese Zusammenarbeit wirft auch viele Probleme auf.
Gemeinsames Arbeiten über das Web
Es ist nun wirklich ein alter Hut, dass ein ganzes Team an einem Projekt, Buch oder was auch immer arbeitet. Meistens dadurch, dass einem Mitglied ein bestimmter Teil zugewiesen wird, werden Konflikte vermieden. Selbst in der Softwareentwicklung ist das gemeinsame Arbeiten an einer Quelldatei bzw. an einer´Methode sehr selten und i.d.R. Hinweis auf eine schlechte Abstimmung. Aber Officedokumente sind keine Sammlung von Textdateien, wie sie in Softwareprojekten anzufinden sind. Man kann sie nur mit speziellen Programmen ansehen und darüber bearbeiten. Sie bestehen aus großen Dateien. Das Versions- und Konfliktmanagement müssen also vollständig von der Software zur Anzeige der Dokumente abgeleistet werden.
Entgegen zu parallelen Änderungen an Quellcode wird hier also simultan an einer Datei gearbeitet. Die Anwendung muss entscheiden, welche Teile eines Dokuments als atomar gelten – was darf immer nur ein Anwender gleichzeitig bearbeiten und welche semantischen Zusammenhänge zwischen ihnen gelten. Bearbeitet z.B. ein Anwender ein Kapitel einer wissenschaftlichen Abhandlung, so wird er auch das Inhalts- und Literaturverzeichnis aktualisieren müssen. außerdem wird es zu bestimmten Phasen eines Dokuments notwendig sein, den Umfang von Änderungen zu beschränken. Ein Korrekturleser darf z.B. nur einzelne Wörter ändern oder einen Satzbau korrigieren, während er keine Absätze einfügen oder löschen darf. Außerdem finden die Änderungen in Echtzeit statt und nicht wie bei der Versionsverwaltung wie SVN transaktionsorientiert.
Ist so etwas für Anwender wirklich praktikabel?
Wer einmal ein paar Branches in einer Versionsverwaltung wie SVN verwaltet hat, weiß, dass konflikte und parallele Änderungen, auch bei einem wirklich guten Versionskontrollsystem wie SVN, Arbeit und Zeit bedeuten. Das gilt um so mehr, als die o.g. Situation deutlich komplexer ist und in echtzeit stattfindet – bei SVN finden die Konflikte zum Zeitpunkt des Eincheckens statt. Es muss also darum gehen, Konflikte schon von vornherein zu minimieren und falls notwendig die beteiligten entspr. zu schulen. Eine Sekretärin wird sicher schnell damit überfordert, mehrere Versionsstände im Auge zu behalten und die relevanten Änderungen zusammenzuschieben. Damit bleibt die Frage: Ist das Zusammenarbeiten an einem Dokument wirklich praktikabel, selbst wenn es technisch machbar ist?
Zugänglichkeit für blinde Menschen
Zu allem Überfluss kommt nun für blinde Menschen, die einen Screenreader benutzen, eine weitere Komplexitätsstufe hinzu. Es ist noch nicht klar, ob Techniken wie ARIA etc. ausreichend sind, um weboffice-Anwendungen hinreichend zugänglich zu machen. Im Endeffekt könnte es um viele Arbeitsplätze von blinden Menschen gehen, weil viele in Büros größerer Firmen und Behörden arbeiten. Falls nun das gesamte Office auf eine Webversion umgestellt wird, müssen mehrere Dinge gleichzeitig gelöst werden:
- Die Officefunktionen, die über Webbrowser bereitgestellt werden, müssen zugänglich sein. Das bedeutet das Abgreifen von bestimmten Informationen über einzelne Teile eines Dokuments (Zellen einer Tabelle oder Folien einer Präsentation)
- Erarbeiten eines Konzepts, wie konkurrierende Änderungen und verschiedene Versionen eines Dokuments dargestellt werden können – alleine farbige Darstellungen sind schon für sehende Menschen komplex.
- Anpassen der Zugänglichkeit an die verschiedenen Webtechniken, die bei den Anwendungen zum Einsatz kommen – Flash, Javascript etc.
Entwicklern von Screenreadern steht also nach wie vor viel Arbeit ins Haus. Da wäre es gut, wenn einige der vielen Bugs in verbreiteten Screenreadern schnell behoben würden.