Der sichere Weg zur digitalen Barrierefreiheit
Einführung
Es gibt nach meiner festen Überzeugung einen festen und sicheren Weg zur Barrierefreiheit. Klingt ein wenig wie die Werbeversprechung eines Overlay-Tools, aber mit ein wenig Zeit kann jeder Leser sich seine eigene Meinung bilden.
Es ist zwar ein sicherer, aber auch komplexer Weg. Deshalb ist es eine Artikelserie.
Der richtige Anfang
Viele warten jetzt bestimmt gespannt auf die allseits bekannten Tests zur Barrierefreiheit – sei es automatisch oder von Experten anhand sperriger Prüfschritte. Über sie werden wir auch sprechen, aber erst am Ende und damit in einer der letzten Artikel. Warum? Ist Barrierefreiheit nicht im Kern Testen und Fehler aufschreiben? Gegenfrage: Besteht eine Abiturprüfung daraus, dass Sie erstmal die Prüfung ablegen und sich hinterher vom Lehrer erklären lassen, was Sie alles nicht wussten? Würden Sie sich überhaupt zu einer Prüfung anmelden ohne gelernt zu haben? Wie hoch schätzen Sie ihre Erfolgsaussichten?
Und da liegt aus meiner Sicht ein Kardinalsfehler: Barrierefreiheit ist im Wesentlichen das Sicherstellen technischer Bedingungen und das Verstehen von Prinzipien. Keine Magie und genauso klar wie die Normen zu Bauprojekten. Kurz, Sie müssen es nur von der richtigen Seite angehen und kommen mehr oder minder automatisch mit sehr guten Noten aus der Prüfung.
Jetzt verspüren viele Anwender, die nicht an der Entwicklung einer Webseite oder einer App beteiligt sind sicher den dringenden Wunsch auf die Testausführung vorspringen zu können. Aber warum sollte der Lehrer sich die Mühe machen die Prüfung im detail zu prüfen, wenn sich der Schüler selbst nicht bemüht hat? Vielleicht für Geld, aber das macht trotzdem keinen Spaß. Sollten Sie also als Tester unterwegs sein und das ungute Gefühl haben, dass Grundlagen nicht verstanden wurden, dann bitten sie den Schüler doch bitte erst zu lernen – beispielsweise diesen Weg zu studieren und auszuführen, bevor er zum Test antritt. Verlagern Sie ihre Bemühungen auf das Verstehen des Prozesses, wie Barrierefreiheit von den Herstellern im Wesentlichen selbst geprüft und sichergestellt werden kann. Sie sollten diesen Weg also als Leitfaden für Ihre eigene Beratung verstehen.
Am Anfang stehen die Anwendungsfälle
Anwendungsfälle sind die Motivation, die Aktionen, und das Ergebnis, mit denen ein Anwender etwas macht. Im einfachsten Fall liest er die Webseite oder ein gesamtes Dokument, um sich zu informieren. In einem Komplexen Fall füllt ehr seine Grundsteuererklärung bei Elster.de aus.
Der erste Schritt besteht nun darin, bei jedem digitalen Produkt festzulegen, welche Anwendungsfälle aufttreten können und sie einzeln darauf zu prüfen, ob sie barrierefrei umgesetzt werden können. Das Lesen einer Webseite ist sicher barrierefrei umsetzbar, aber das Wischen und Matchen bei Tinder dürfte schon schwierig werden. Nicht etwa weil das Wischen und Anklicken nicht geht, sondern weil der Anwendungsfall im Kern darauf beruht eine Kandidat*in schnell und anhand des Gefallens des Fotos zu beurteilen.
Es kommt nun darauf an, wie zentral der Anwendungsfall für das Produkt bzw. das Angebot ist. Tindern ohne Auswahl über Fotos geht nur schwer, aber die Auswahl einer Lieblingssportlerin kann vielleicht anderweitig umgesetzt und erst später berücksichtigt werden.
Eine andere Art von Barriere ist das Fehlen von leichter Sprache. Oft lässt sie sich umsetzen, aber das Ausfüllen juristisch relevanter Dokumente dürfte sehr schwierig werden, weil diese präzise Sprache und Fachbegriffe vorausetzen.
Am Ende dieses ersten Schritts sollten Sie eine Übersicht der Anwendungsfälle aufgelistet und ihnen die Möglichkeiten und Risiken für eine barrierefreie Umsetzung gegenübergestellt haben. Um das zu erreichen können Sie eine Reihe von dingen tun:
- Versetzen Sie sich in die Lage der Verschiedenen Anwender – Also Personen mit den unterschiedlichen Einschränkungen. eine Liste mit möglichen sog. Personas finden Sie hier: https://www.ebsco.com/blogs/ebscopost/identifying-user-personas-accessibility-why-its-important Sie sollte einen guten Denkanstoß geben. Versuchen Sie die Schritte aufzuschreiben, wie die Anwendungsfälle mit der jeweiligen Einschränkung durchgeführt werden könnten.
- Sie können nach dem Zusammenstellen der Personas auch versuchen die Zielgruppen über Selbsthilfeverbände zu kontaktieren. Dort wird man Ihnen vermutlich ziemlich genau sagen können, welche Möglichkeiten es gibt, um die Anwendungsfälle umzusetzen.
- Sie können im Netz recherchieren und verschiedene Hilfstechniken ausprobieren. Bedenken Sie aber hierbei, dass Hilfstechniken oft im Kern komplexer sind und sie viele Funktionen nicht auf Anhieb verstehen werden. Auch hier können die Zielgruppen vermutlich gut helfen.
Die Ergebnisse aus einer solchen Analyse von Anwendungsfällen geben Ihnen wertvolle Ergebnisse:
- Sie haben nun einen Überblick über die Art von Anwendungsfällen und welche Möglichkeiten und Risiken für Barrierefreiheit es gibt. Hätten Sie beispielsweise gewusst, dass es möglich ist grafische Kurven mittels Sonification akustisch auszugeben? War Ihnen bekannt, dass Nutzer von Screenreadern detaillierte Informationen über Bilder erhalten können, ohne dass diese optisch sichtbar sind?
- Eine solche Analyse gibt Ihnen wertvolle Informationen über das konkrete Projekt hinaus. Haben Sie den Tinder-Fall einmal analysiert lässt sich das auf andere änliche Anwendungsfälle zum optischen Einschätzen übertragen – das Wiedererkennen eines Fotos aus der Verbrecherkartei beispielsweise wird die gleichen Herausforderungen mit sich bringen.
- Die Übersicht erlaubt eine grobe Einschätzung zum Aufwand und der Priorität für die Umsetzung der Anwendungsfälle.
- Die Anwendungsfälle, die nicht barrierefrei umsetzbar sind, können in der Erklärung zur Barrierefreiheit dokumentiert und ggf. mit den Zielgruppen besprochen werden.